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Rezension aus:
F.A.Z., 08.09.2020


DDR UND RUHRGEBIET:
Tief im Westen

Von Reiner Burger

Der „Arbeiter- und Bauernstaat“ hatte großes Interesse am „Revier“, vor allem an Forschungsergebnissen.

Für DDR-Geschichte interessiert sich die breite Öffentlichkeit im Westen der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland meist erst dann, wenn es um große Ereignisse wie den Spionagefall Guillaume oder den Fall der Mauer geht. Dabei spielen die DDR und ihr totalitärer Anspruch auch in der Alltagsgeschichte in vierzig Jahren Bonner Republik eine viel größere Rolle, als viele vermuten. Zwar führte Hubertus Knabes These von der „unterwanderten Republik“ vor einiger Zeit zu heftigen Kontroversen. Unstrittig ist aber, dass die führenden Organisationen der DDR über all die Jahrzehnte hinweg mit großem personellen und finanziellen Aufwand darum bemüht waren, zugleich Einfluss auf den westlichen Teil Deutschlands zu nehmen und dort Informationen abzuschöpfen. Die sogenannte Westarbeit fand sowohl offen als auch verdeckt statt, sie umfasste klassische (Wirtschafts-)Spionage ebenso wie Maßnahmen, die ganz allgemein destabilisierend wirken sollten.


Reiner Burger,
Politischer Korrespondent der F.A.Z. in Nordrhein-Westfalen

Ein besonders wichtiges Betätigungsfeld der „Westarbeiter“ blieb von der doppelten Staatsgründung 1949 bis 1989 unangefochten das Ruhrgebiet. Sieht man von der Bundeshauptstadt Bonn und West-Berlin ab, dann hatte neben dem rheinisch-westfälischen Industrierevier allenfalls der mittelhessische Industriebezirk eine vergleichbare Bedeutung für die Auslandsaufklärung der DDR. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Das Ruhrgebiet war von zentraler Bedeutung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Westeuropa. Als im Sommer 1946 die britischen Besatzer das Bundesland Nordrhein-Westfalen gründeten, wollten sie in der umstrittenen Ruhrfrage vollendete Tatsachen schaffen. Das Ruhrgebiet sollte wie ein Juwel schützend umfasst, den Ansprüchen der Sowjetunion ein Riegel vorgeschoben werden. Die Idee, aus dem Ruhrgebiet ein völkerrechtlich neuartiges, von den Siegermächten gemeinsam regiertes „Ruhrterritorium“ zu machen, lehnten die Briten strikt ab. Sie hatten erkannt, dass Deutschland auf diese Weise wirtschaftlich destabilisiert und also dem Kommunismus in die Arme getrieben werden würde.

Gleichwohl versuchte die Sowjetunion im Spiel zu bleiben. Im Sommer 1946, nur wenige Monate nach dem „Vereinigungsparteitag“ von KPD und SPD zur SED in Ost-Berlin, gingen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl auf eine Westtournee, um unter anderem auch im Ruhrgebiet für die Ausdehnung der SED auf ganz Deutschland zu werben. Das Ruhrgebiet mit seiner starken proletarischen Tradition blieb auch in den ersten Nachkriegsjahren noch die Hochburg der KPD im Westen. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 1947 erreichte sie dort in vielen Stadtkreisen 20 Prozent, bei der ersten Bundestagswahl 1949 dann immer noch 7,6 Prozent. Im Ruhrgebiet schien den DDR-Verantwortlichen also die Chance überaus günstig, „das ursprüngliche strategische Ziel der Westarbeit, die Herbeiführung einer revolutionären Situation in der Bundesrepublik zur Schaffung eines sozialistischen Gesamtdeutschlands unter kommunistischer Führung“, zu erreichen, formulieren die Herausgeber des Bandes „Das Ruhrgebiet im Fokus der Westarbeit der DDR“, in dem Beiträge einer gleichnamigen wissenschaftlichen Tagung in der Ruhr-Universität Bochum zusammengefasst sind – was gelegentliche Redundanzen erklärt. In zehn Aufsätzen werden die aus der Sicht der DDR wichtigsten Zielobjekte der Westarbeit beleuchtet – von Arbeitern, Gewerkschaften über Kirchen, die Friedensbewegung der 1950er und 1960er Jahre, Unternehmen, Hochschulen, Forschungseinrichtungen bis zu Parteien.

Der Erfolg der politischen Westarbeit hielt sich trotz enormer personeller und finanzieller Anstrengungen von Beginn an in engen Grenzen. Die Autoren des Bandes erklären das für die ersten Nachkriegsjahre unter anderem mit dem festen Glauben der SED „an den gesetzmäßigen Gang des historischen Fortschritts gegen alle soziale und politische Evidenz“. Zudem sei die strikte Ausrichtung der KPD an der SED für viele Arbeiter nicht anziehend gewesen. Die Propaganda der SED habe auch innerhalb der Anti-Wiederbewaffnungs-Bewegung eher zu einer Abgrenzung von der DDR als zu einer Annäherung geführt.

So wenig, wie sich die vom Politbüro der Einheitspartei formulierte Erwartung erfüllte, der westdeutschen Regierung würden „auf verschiedenen Gebieten Wellen des Widerstands entgegenschlagen“, so wenig erfüllte sich die Hoffnung, „dass das Ruhrgebiet zu einem neuralgischen Punkt für das Adenauersystem insgesamt wird, von dem immer wieder Kampfimpulse für ganz Westdeutschland ausgehen“.

War es der SED in den 1950er Jahren noch darum gegangen, revolutionäre Zustände in Westdeutschland mit dem Ziel anzustoßen, ein sozialistisches wiedervereinigtes Deutschland zu errichten, so wurde in den 1960er Jahren die völkerrechtliche Anerkennung der DDR die vordringliche strategische Motivation. Durchgängig unverändert blieb ein anderer Teil der Westarbeit, die Wissenschafts- und Technikspionage. Zuträger der Staatssicherheit schöpften über vier Jahrzehnte bei westdeutschen Konzernen, Kleinunternehmen, Technologiezentren, Kernforschungsanstalten und Hochschulen in unfassbarem Umfang Informationen zu allen nur erdenklichen Wissenschaftsaspekten ab.

Im Ruhrgebiet nahm die Ruhr-Universität Bochum in den Planungen der Staatssicherheit „eine feste Größe ein und fungierte gewissermaßen als operativer Bestellkatalog“, aus dem mit Hilfe diverser „Quellen“ beinahe nach Belieben „Forschungsergebnisse geordert werden konnten“, wie Helmut Müller-Enbergs in seinem Aufsatz formuliert. 1974 beschaffte eine Quelle Informationen aus der Flugkörperforschung, die das DDR-Verteidigungsministerium bestellt hatte. Das Bauministerium wiederum wünschte sich 1978 Software für den Stahlbau – zwei Spitzel in der Ruhr-Universität lieferten prompt. Wenig später konnte ein Stasi-Zuarbeiter an der Bochumer Hochschule auch einen Sprachprozessor entwenden, den das Kombinat Robotron in Dresden brauchte.

Ob die Wissenschafts- und Techniksparte der erfolgreichste oder unterm Strich vielleicht gar der einzig wirklich erfolgreiche Teil der Westarbeit war, wird in dem Sammelband leider nicht erörtert. Ein Hinweis in der Einleitung legt diese Vermutung allerdings nahe. Demnach ließ sich das Ministerium für Staatssicherheit seine Wissenschafts- und Technikspione im Westen allein in den Jahren zwischen 1986 und 1989 eineinhalb Millionen D-Mark kosten. Folgt man den Stasi-Kalkulationen, stand diesem Betrag ein enormer Ertrag von 1,5 Milliarden Valuta-Mark gegenüber.

Stefan Berger/Burkhard Dietz/Helmut Müller-Enbergs (Hrsg.): Das Ruhrgebiet im Fokus der Westarbeit der DDR. Klartext Verlag, Essen 2020. 210 S., Euro 29,95

 

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