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Rezension aus: Rheinische Vierteljahrsblätter 79 (2015), S. 416 – 419

Lageberichte rheinischer Gestapostellen, Bd. II-1, Januar-Juni 1935, bearb. von ANSELM FAUST, BERND A. RUSINEK, BURKHARD DIETZ (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 81), Düsseldorf: Droste 2014, 772 S. ISBN: 978-3-7700-7643-7.

Erfreulich schnell ist der zweite Band der Lageberichte aus den Regierungsbezirken Düsseldorf, Aachen, Köln, Koblenz und Trier erschienen. Das Buch umfasst 772 Seiten, ein voluminöser Band also, wiederum auf hohem editorischen Niveau mit einer insgesamt informativen Einführung der Herausgeber, die sich vor allem an den politischen Höhepunkten – Saarabstimmung, Wehrpflicht, Arbeitslosigkeit –, den außenpolitischen Problemfeldern und den ‚Gegnern‘ – Kommunisten, Katholiken, Bekennende Kirche und Juden – orientiert, wobei angesichts der Konfessionsstruktur des Rheinlandes der katholische Volksteil und die katholische Kirche im Vordergrund stehen. Demgegenüber werden Wirtschaft, allgemeine Stimmung und Atmosphäre kaum angesprochen, obwohl sich ausführliche Darlegungen sogar zu den einzelnen Wirtschaftsbranchen vor allem in den Düsseldorfer Berichten finden und, um ein Beispiel zu nennen, die Festsetzung von Höchstpreisen für Lebensmittel und deren Auswirkungen schon erläuterungsbedürftig wären.

Es handelt sich um eine Quellenedition, nach der (hoffentlich) die Wissenschaftler greifen werden, darüber hinaus ist auch an die interessierte Öffentlichkeit, an Lehrer, Erwachsenenbildner, Oberstufenschüler und Studenten zu denken. Insofern kommt der Einführung bei der Benutzung des Bandes eine gewisse Leitfunktion zu, auch in den Beurteilungsfragen. In diesem Zusammenhang fällt die erstaunliche Betonung der ‚polnischen Minderheit‘ auf, die in den Berichten einmal auf knapp einer Seite vorkommt, in der Einführung jedoch mit eineinhalb Seiten einen merkwürdig hohen Stellenwert genießt. Das verwundert umso mehr, als es sich bei den Polen im Industriegebiet rechtlich nicht um eine Minderheit handelte, sondern um Einwanderer bzw. Arbeitsmigranten, weil mit Minderheit (und deren Rechten) eine autochthone Bevölkerung gemeint ist, wie sie z.B. in Oberschlesien zu finden war. Die Hinweise auf eine ,Germanisierungspolitik‘ gehen hier also durchaus fehl. Die ethnischen Minderheiten auf beiden Seiten der neuen deutschen Ostgrenze sollte ein Minderheitenschutzvertrag als Teil des Versailler Vertrages schützen, den übrigens die polnische Regierung am 13.4.1934 gekündigt hatte. Insofern unterlagen polnische Vereine im Regierungsbezirk Düsseldorf den gleichen Beschränkungen wie deutsche. Erstaunlich an dem Bericht ist doch eher, dass am Trauergottesdienst in Essen für den verstorbenen Präsidenten Pilsudski hohe Behörden- und Wehrmachtsvertreter sowie die Oberbürgermeister der Städte Essen, Düsseldorf, Dortmund und Münster teilnahmen.

Aus der Vielzahl möglicher Besprechungspunkte soll im Folgenden auf die allgemeine Atmosphäre, den Konflikt mit der katholischen Kirche und den Antisemitismus ein wenig näher eingegangen werden.

Die Stimmung war schlecht, ganz besonders bei den Erwerbslosen und den Arbeitern, deren Löhne oft kaum den Richtsatz der öffentlichen Fürsorge erreichten (S. 462). Es waren Hungerlöhne (S. 133), Fett und Fleisch konnten kaum gekauft werden und selbst Milch wenn überhaupt, dann immer nur in kleinen Mengen (S. 387). Nicht wenige Bergarbeiter konnten nur mit Kartoffelbrei beschmierte Schnitten mit zur Arbeit nehmen (S. 330).Von diesen Verhältnissen vermochte weder die Propaganda abzulenken, noch politische Höhepunkte wie die Saarabstimmung, die am 13.1.1935 mit 90,7 % für Deutschland ausging. Die Stimmung hing eben ab von den konkreten Tatsachen (S. 700), wie die Gestapo Aachen zutreffend feststellte. Umso mehr fiel ins Auge, wie sich Amtsträger der NSDAP und ihrer Organisationen (SA, HJ, NSV) benahmen, die in erheblichem Umfang durch ‚Disziplinlosigkeiten‘ wie Schlägereien, Körperverletzungen, Amtsmissbrauch, Unterschlagungen, Urkundenfälschung, Meineid u.Ä. auffielen.

Warum beschwerten sich die Leute nicht, warum nahmen sie all das hin, würde die heutige junge Generation fragen. Auch dazu finden sich sehr offene Informationen: Man vermied jede öffentliche Kritik, weil Ungelegenheiten zu befrachten waren (S. 460). Die Gestapo registrierte vielfach den Wunsch nach Kritik und freier Meinungsäußerung, doch es herrschte allzu große Furcht vor behördlichem oder parteiamtlichem Einschreiten. Diese Furcht nahm selbst dem Karneval den Biss und damit auch die Möglichkeit, manchen kleinen politischen Ärger abreagieren zu können (S. 212). Für diese Zurückhaltung gab es eindeutige Signale: Bei einem Turnfest hob eine Teilnehmerin beim Deutschland- und Horst-Wessel-Lied nicht den Arm. Sie wurde denunziert und wegen groben Unfugs zu 14 Tagen Haft verurteilt (S. 205).

Ein reger heimlicher Meinungsaustausch war Ausdruck einer stark kritischen Einstellung in allen Schichten der Bevölkerung, in allen Ständen und Berufen (S. 131), eben heimlich, man hatte seine Meinung, fürchtete sich aber, sie laut werden zu lassen, so dass offene Worte nur im engsten und vertrautesten Kreise gesprochen wurden (S. 483). Kurz, zwei Jahre nach Hitlers Machtantritt herrschten nicht nur weiterhin schlechte Lebensverhältnisse, sondern auch latente Angst aufzufallen. Nicht zuletzt für die Gestapo ein schwieriges Arbeitsfeld, die ,wahre‘ Stimmung zu erheben.

Mit den direkten Gegnern hatte man es in dieser Hinsicht leichter – wenn man den Berichten folgt. In der historischen Einführung hört sich das durchaus anders an, leisteten danach doch die Kommunisten „hartnäckigen politischen Widerstand“, während hinsichtlich der Katholiken von „anhaltenden Vorbehalten“ gegenüber dem Regime die Rede ist (S. 1), obwohl die katholische Kirche, die demzufolge keinen ,politischen Widerstand‘ geleistet habe, in den Augen der Gestapo einer der gefährlichsten Gegner für den Staat war (S. 647). Sie sei in eine Offensive gegen Staat und Bewegung eingetreten, die sich immer mehr zu einem offenen Kampf an allen Fronten entwickelt habe (S. 579).

Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

In der Tat, die Kommunisten waren politische Gegner, deren Organisationen zerschlagen wurden mit der Verhaftung von mehr als 18.000 Kommunisten von Anfang 1933 bis Ende 1935. Der ,politische Widerstand‘ lag in der Verbreitung von Flugblättern und Aufklärungsschriften und in dem – erfolglosen – Versuch, einen illegalen Parteiapparat aufrechtzuerhalten, was die Berichte ausführlich schildern.

Dass die Aktivitäten von katholischem Klerus und Kirchenvolk von der Gestapo als gefährlich für den NS-Staat angesehen wurden, ist in der Literatur mehrfach damit erklärt worden, dass die Gestapo ihre eigene Bedeutung habe unterstreichen wollen, die Kirche jedoch habe sich lediglich für ihre Rechte eingesetzt.

Diese Bewertung ignoriert den von Broszat entwickelten wirkungsgeschichtlichen Ansatz, der ja die völlige Wirkungslosigkeit der kommunistischen Aktionen ins Bewusstsein hebt. Auf die Kirche angewandt finden sich Antworten in den vorliegenden Lageberichten selbst: So sei im Zusammenhang des Weltanschauungskampfes um Rosenbergs ,Mythus‘ das religiöse Gefühl breiter Massen mehr und mehr in Bewegung gekommen (S. 385), und man müsse von einem völligen geistigen Umbruch und Aufbruch im kirchlich-katholischen Leben sprechen (S. 292 f.). Es sei eine grundsätzlich ablehnende Haltung der katholischen Geistlichkeit gegenüber dem nationalsozialistischen Staat festzustellen (S. 191).

Inhaltlich hieß dies, dass die Geistlichkeit in fast geschlossener Front gegen die weltanschaulichen Grundlagen des Nationalsozialismus steht. Eine gewisse passive Resistenz der Geistlichkeit habe sich zu einer aktiven Gegenwirkung gewandelt (S. 434). Der Kampf richte sich gegen die Bewegung selbst. Mit aller Energie wendet sich die Kirche gegen die Notwendigkeiten des 20. Jahrhunderts und gegen die nationalsozialistischen Grundsätze (S. 585).

Der ‚Weltanschauungskampf‘ war also kein Nebenkriegsschauplatz um Rosenbergs Buch, das Hitler angeblich nicht gelesen hatte, es war vielmehr ein zentraler Konflikt um die Gültigkeit entweder der christlichen Werte oder der eindeutig entgegengesetzten nationalsozialistischen grundlegenden Weltanschauungsdogmen (S. 443). Wurden Letztere bestritten, wurde damit die Grundlage des NS-Staates in Frage gestellt und damit auch dessen Legitimität.

Dieser Zusammenhang wurde von der Gestapo offenbar klarer gesehen als von Teilen der historischen Forschung mit ihrer verhaltenen Resistenz-Begrifflichkeit, eine ‚Resistenz‘, die die Gestapo interessanterweise als überwunden einstufte. Wenn das Regime durch die Predigten Bischof von Galens und dessen Einforderung der Menschenrechte gezwungen wurde, die Morde an Geisteskranken einzustellen, dürfte doch kein Zweifel bestehen, dass dies ein ,politischer‘ Vorgang war. Galens Mut, seine klare Sprache und die ungeheure (geheime) Verbreitung seiner Predigten führten zur Einstellung der Mordaktion. In der historischen Einführung findet sich dazu in merkwürdigem Understatement die Formulierung „nicht zuletzt den Einsprüchen katholischer Bischöfe war es zu danken, daß die Tötungen ...“ (S. 26). Man lese doch dazu einmal Goebbels‘ Tagebuch.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Veröffentlichung der ,Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts‘, der von katholischen Gelehrten verfassten sachlichen Widerlegung von Rosenbergs ,Mythus‘, die wiederum zuerst von Bischof von Galen in Münster als Beilage zu seinem Amtsblatt veröffentlicht wurde, weil Kardinal Schulte von seiner Zusage zurückgetreten war (was schon einen Hinweis in den Anmerkungen wert gewesen wäre). Dazu passt die Bemerkung in den Lageberichten, der Kölner Klerus sei teilweise sehr ungehalten über die mangelnde Initiative des Kardinals (S. 541), der eine fast ängstliche Zurückhaltung zeige und mehrfach anfängliche Zusagen hinsichtlich seines persönlichen Erscheinens wieder zurückgezogen habe (S. 673). Demgegenüber wird Bischof Bornewasser aus Trier als großer Aktivist bezeichnet, von den Gläubigen seines Bistums als Fackelträger der Jugend (S. 505).

Die evangelische Kirche mit weit geringerem Bevölkerungsanteil war vor allem in einem inneren Streit zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche verstrickt, was aber nach außen hin wenig in Erscheinung trat (S. 550), doch vermutete die Gestapo in BK-Kreisen Gegnerschaft zum Regime und beobachtete eine gewisse Annäherung von Protestanten und Katholiken in der Auseinandersetzung um das ,Neuheidentum‘.

In der ersten Jahreshälfte 1935 ging eine Welle von antisemitischen Ausschreitungen über Deutschland, es gab Schmierereien an jüdischen Geschäften, Plakate gegen Juden, Schaufenster- und Fensterscheiben wurde eingeworfen u.a.m. Dazu ist aus den Berichten zunächst ersichtlich, dass dies von NSDAP, SA und HJ ausging, die z.T. bei diesen Vorfällen sogar in Uniform auftraten. Allerdings waren die Reaktionen im Volke auf die antisemitischen Aktionen durchweg negativ. Von einem großen Teil der Bevölkerung würde dieses Vorgehen missbilligt, auch in tätigem Verhalten, was unter den eingangs geschilderten Bedingungen keineswegs selbstverständlich war. Die Gestapo bezeichnete die Aktionen als äußerst unwirksam (S. 506), musste man doch sogar einen verstärkten Zulauf zu den jüdischen Geschäften beobachten – auch von Frauen von Parteigenossen – sowie eine demonstrativ hohe Beteiligung der christlichen Bevölkerung an jüdischen Beerdigungen. Mädels – wohl vom BdM –, die Flugzettel vor einem jüdischen Geschäft verteilten, wurden von Passanten zurechtgewiesen (Versäumt es nicht, euren Auftraggebern zu sagen, wie anständige Menschen über diese Hetzereien denken [S. 612]). Aus einem Menschenauflauf bei der Verhaftung eines Juden wurde gerufen Laßt den Juden laufen, hängt lieber den SS-Mann auf! (S. 461). Es gelang nicht, den Rufer zu ermitteln, ein Zeichen für die übereinstimmende Meinung in der Menge. Der aktive Antisemitismus blieb offenbar auf den Kern der Regimeanhänger beschränkt, denen es zumindest im Rheinland nicht gelang, die Bevölkerung mitzureißen.

Zusammengefasst: Die Lageberichte stellen eine aufschlussreiche Lektüre zur Lebenswirklichkeit unter dem NS-Regime dar und sind ein Quellenbestand, den auszuwerten für Historiker lohnend ist, auch noch nach Jahrzehnten historischer Forschung zum Nationalsozialismus.

Joachim Kuropka, Vechta

 

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